Tote
können länger
von
Ruther Rendommeleigh
Die Dämmerung bricht herein. Ich
wage einen Blick aus dem Fenster. Kein guter Tag. Die Straßen sind
voll von ihnen. Ziellos schlurfen sie umher, stoßen gegeneinander,
wanken mit leerem Blick im Kreis. Der Lärm wird sie angelockt haben,
schätze ich, oder der Geruch alten Frittierfetts. Ich beobachte eine
Weile, suche nach Mustern in ihren Bewegungen. An meinem
Aussichtspunkt im vierten Stock bin ich relativ sicher. Sie schauen
nie nach oben.
Die Rede ist natürlich von den
Lebenden. Wie Sie vielleicht schon erraten haben, gehöre ich nicht
zu ihnen.
Keine andere Minderheit steht in
einem so schlechten Ruf wie die Wandelnden Toten. Man stellt uns als
hirnlose Mordmaschinen dar, als Werkzeug des Teufels oder
Krankheitsüberträger. Setzen Sie sich ruhig einmal vor den
Fernseher und zählen Sie, wieviele Zombies der Protagonist eines
einschlägigen Horrorstreifens ohne Reue niedermäht. Schon von klein
auf wird den Menschen beigebracht, dass es in Ordnung ist, uns
wahlweise mit Feuer und Schwert, mehrläufigen Schrotflinten oder
grausamen Experimenten zu begegnen.
Warum Sie das alles interessieren
sollte? Nun, wenn dieser Brief Sie erreicht, gehören Sie bereits
dazu. Dies ist sozusagen Ihre – nachträgliche – offizielle
Einladung, sich uns in aller Stille anzuschließen. An dieser Stelle
verzichte ich darauf, Ihnen Gelassenheit nahezulegen und beschränke
mich auf den Hinweis, dass Gefühle wie Panik oder Wut von einigen
wenigen Drüsen abhängen, die inzwischen ihre Arbeit längst
eingestellt haben sollten.
Wie es passiert ist? Da gibt es viele
Möglichkeiten. Wir sind inzwischen überall. Hatten Sie in letzter
Zeit engeren Kontakt zu Juristen? Erinnern Sie sich, wie Sie nach dem
letzten Besäufnis nach Hause gekommen sind? Wie gut kennen Sie die
Imbißbude auf halbem Weg zu ihrer Stammkneipe? Oder vielleicht
neigte Ihre neueste Eroberung ein bißchen zum Kratzen und Beißen?
Hat nicht ein zusammenhängendes Wort herausgebracht? Ach, glaubten
Sie wirklich, Sie wären so gut?
Aus welchem Grunde auch immer wir Sie
nun in unseren Reihen begrüßen dürfen, ich möchte Ihnen auf jeden
Fall ein paar Erkenntnisse mit auf den Weg geben, die Ihnen in Ihrem
neuen Unleben von Nutzen sein werden. Das Wichtigste zuerst:
Versuchen Sie nicht, die Menschen zu bekämpfen! In den ersten Tagen
mag Sie eine Art Heißhunger überkommen, gefolgt von einem Gefühl
der Unbesiegbarkeit. Geben Sie dem nicht nach! Letztlich würden Sie
doch verlieren - und all den Vorurteilen neue Nahrung geben.
Was mich auch schon zum leidigen Thema der
Ernährung bringt. Ihr neuer Metabolismus ist in dieser Richtung
eigentlich recht anspruchslos. Ein Pfund rohen Schinkens oder grober
Blutwurst pro Tag sollte vollauf genügen, um bei Kräften zu
bleiben. Dennoch werden sie bald den Drang verspüren, unvorsichtige
Post- oder Pizzaboten in ihre Wohnung zu zerren. Davon möchte ich
Ihnen dringend abraten. Unangekündigtes Verschwinden zieht
heutzutage peinliche Ermittlungen nach sich. Wenn Sie der Heißhunger
packt, greifen Sie stattdessen lieber zu GEZ-Beauftragten oder Zeugen
Jehovas. Niemand wird Ihnen diesbezüglich unangenehme Fragen
stellen. Falls Sie dennoch einmal ein schlechtes Gewissen plagen
sollte, denken Sie daran: Sie können jederzeit aufhören. Ehrlich!
Wie dem auch sei, der größte
Unterschied zwischen ihnen und uns – von Oberflächlichkeiten wie
Hautfarbe und Herzschlag einmal abgesehen – ist die Art, wie wir
die Dinge um uns herum wahrnehmen.
Richten Sie ihren Blick einmal in den
nächsten Spiegel. Sie sehen ein unrasiertes, leicht aufgedunsenes
Gesicht, blass, Mitte dreißig? Glückwunsch, Sie sind einer von uns.
Falls Sie hingegen einen männlich-ausdrucksstarken Blick, ein
markantes Kinn und animalischen Charme erkennen... nun, die schlechte
Nachricht ist: Es ist dasselbe Gesicht. Ihr Gehirn benötigt schlicht
noch ein paar Stunden, um den letzten Rest Hormoncocktail vom
metaphorischen Becherboden zu schlürfen.
Es heißt, die Welt sei eine Bühne.
Für die meisten Menschen gleicht sie eher einem großen Kinosaal.
Auf jede halbwegs ebene Fläche projizieren sie wechselweise
Werbespots und Seifenopern. Wenn ein Mensch seinen Blick in die Ferne
richtet, sieht er noch immer hauptsächlich sich selbst.
Diese Eigenschaft hat es uns erlaubt,
bis heute zu überleben. Oder über-nicht-leben, gewissermaßen. Äh.
Wie dem auch sei, ein Lebender sieht, was er erwartet, meistens
jedenfalls. Der Kontext ist entscheidend. Sie werden überrascht
sein, wie leicht ein frisch gebügeltes Hemd und ein eleganter Hut
aus einem menschenfressenden Untoten einen bloß übermüdeten
Geschäftsmann machen. Imitieren Sie sie, passen Sie sich ihrer
Kleidung, ihren Bewegungen an und sie werden Sie nicht einmal
bemerken.
Damit sei Ihnen keineswegs geraten,
in allzu engen Kontakt zu den Lebenden zu treten. Wenn Sie
Aufmerksamkeit erregen, wird ihr Gegenüber umso mehr Details
wahrnehmen. Die es selbstverständlich ignorieren oder gänzlich
falsch deuten wird. Man kennt Sie schließlich, es ist bekannt,
daß Sie Anwalt, Drogendealer oder Alkoholiker sind. Aber dieser
Prozeß ist anstrengend, schafft vages Unbehagen. Die Leute werden
sie nicht mögen. Nicht einmal jene, die aus irgendeinem Grund nichts
gegen Anwälte haben.
Das muß nun allerdings nicht
bedeuten, dass Sie Ihr restliches Dasein in Einsamkeit fristen
müssen. Der Umgang mit anderen Ihrer Art wird Ihnen erstaunlich
leicht fallen, was nicht zuletzt an unseren recht moderaten
Ansprüchen liegt. Niemand erwartet Höflichkeit von einem wandelnden
Kadaver. Wenn Ihnen jemand gefällt, halten Sie sich nicht mit
Smalltalk auf. Und planen Sie ruhig ein, zwei Stunden mehr ein.
Wanken Sie anschließend in eine jener Kneipen, um die Sie als
Lebender immer einen großen Bogen gemacht haben. Gehen Sie mit Ihren
untoten Kumpels zu den lautesten, brutalsten Konzerten und kämpfen
Sie sich in die erste Reihe vor. Einen beim Pogen ‚geborgten‘ Arm
wird Ihnen niemand übelnehmen, sofern sie das Körperteil
anschließend zurückgeben. Modern Sie nicht in Ihrer
Zweizimmerwohnung vor sich hin! Sie sind bereits tot, was haben Sie
zu verlieren?