Naturgemäß entstehen so weit mehr Konzepte, als ich in meiner begrenzten Freizeit je umzusetzen in der Lage wäre, deshalb möchte ich einige meiner derzeitigen Lieblinge zumindest in dieser Form (zottelig und ungewaschen) der Öffentlichkeit (sprich: meinen zweieinhalb Lesern) zugänglich machen. Nunja, und sollte einer davon dann doch irgendwann einmal groß rauskommen, könnt ihr immerhin selbstgefällig behaupten, ihn schon als plärrendes Gör gekannt zu haben.
In diesem Sinne übergebe ich das Wort an Frank Kehricht:
Frank zog die Tür hinter
sich zu und trat auf die Straße. Es war ein warmer, sonniger
Montagmorgen, wie geschaffen für einen ausgedehnten Spaziergang. Da
er dank eines unvorhergesehenen Trauerfalles erst gegen neun Uhr im
Büro erwartet wurde, beschloss er, zumindest einen Teil der Strecke
zu Fuß zurückzulegen. Für gewöhnlich hätte er sich auf dem Weg
eine Kugel Eis oder ein belegtes Brötchen gegönnt. Zu dumm, dass er
ausgerechnet heute seine Hose vergessen hatte.
Selbstverständlich hatte er
versucht, die Brieftasche heimlich in eine seiner Jackentaschen zu
schieben, und ebenso selbstverständlich hatte sie ihn dafür
augenblicklich zur Schnecke gemacht. "Du weißt ganz genau",
hatte sie gezischt, "dass ich mein Portemennaie grundsätzlich
in der linken Hosentasche trage." Dem hatte er nichts
entgegenzusetzen gehabt. So vergrub er also nur die Hände in den
Jackentaschen (er fand immerhin eine halbe Packung alter Kaugummis),
passierte in der vagen Hoffnung, nicht erkannt zu werden, mit
gesenktem Haupt die Bäckerei Ecke Wermutstraße und trippelte barfuß
die lange, wie immer reglos verharrende Rolltreppe zum gleichnamigen
U-Bahnhof hinab.
Unten angekommen fiel ihm
als Erstes auf, wie hoffnungslos verdreckt und uneinladend so ein
Bahnhof doch war. Nicht, dass ihn das in irgendeiner Weise überrascht
hätte, aber das Fehlen der üblichen Schutzschicht aus Baumwolle,
Kunstleder und stabilen Gummisohlen verwandelte diesen sonst so
nüchternen, unterkühlt-höflichen Fakt in feuchtwarmes,
aufdringliches Empfinden. Er bildete sich ein, mit jedem Schritt das
widerwillige Schmatzen vernehmen zu können, mit dem der klebrige
Fußboden seine nackten Sohlen freigab.
Sein zweiter Gedanke galt
den hier unten allgegenwärtigen Kameras. Die Vorstellung, dass genau
in diesem Moment jemand eine monochrome, leicht verpixelte Version
seines blanken Allerwertesten betrachtete, löste eine ganze Reihe
von Empfindungen aus, mit denen er sich im Moment lieber nicht näher
befassen wollte. Wenigstens war der Bahnsteig heute überraschend
leer. Bis auf einen verhutzelten alten Flaschensammler, der ihn, von
Mülleimer zu Mülleimer schlurfend, nicht einmal zu bemerken schien,
konnte Frank niemanden entdecken. Dennoch wurde er mit jeder Minute
nervöser.
Als endlich, dumpf
quietschend, ein Zug vor ihm hielt, drängte er sich so schnell er
konnte an den Aussteigenden vorbei und in eine der Sitzecken. Dies
war nicht die Linie, die er normalerweise nahm, aber er hatte keine
große Lust, weitere zehn Minuten auf dem, nun beinahe überfüllten,
Bahnsteig zu verbringen. Seine Jacke war weit genug, dass er im
Sitzen zumindest seine Blöße verdecken konnte. Als der Strom der
Aussteigenden verebbt war, fand er sich, bis auf die beleibte Frau
ihm gegenüber, die ihm unentwegt giftige Blicke zuwarf, und einen
Mann, der nach Branntwein roch und zu schlafen schien, allein im
Wagen. Gut, dann würden sie, aller Wahrscheinlichkeit nach,
zumindest nicht kontrollieren. Er war schon ein paarmal erwischt
worden, das letzte Mal mit einer Damenhandtasche voller lebender
Schlangen, und wollte diesen Vorgang nach Möglichkeit nicht noch
einmal wiederholen.
Ein bisschen musste er
kichern, als er an den Zwischenfall mit den Strumpfbandnattern
zurückdachte. Damals war ihm die Geschichte natürlich furchtbar
peinlich gewesen, aber irgendwie war er auch ein wenig stolz darauf.
Niemand, da war er sich sicher, konnte ein so absurdes und
verkorkstes Leben vorweisen wie Frank Kehricht.
Es hatte vor beinahe zwei
Jahren begonnen, in einer unanständig teuren Altstadtkneipe. Sie war
allein gekommen, in elegantes Schwarz und eine Aura distanzierter
Zurückhaltung gehüllt, er in einem fleckigen Hawaiihemd und im
Gefolge seines lautstark "La Paloma" singenden
Vorgesetzten. Der hatte ihn, nach dem obligatorischen monatlichen
Abteilungsbuffet beim schäbigsten verfügbaren Italiener,
verschwörerisch beiseitegenommen und "auf ein Bier unter
Freunden" eingeladen. Frank hatte eigentlich keine große Lust
gehabt, den Abend noch auszudehnen, konnte aber auch nicht
bestreiten, dass es einiges zu bereden gab. So waren sie also von
Kneipe zu Kneipe gezogen, waren schließlich im wohl teuersten Laden
der Stadt gelandet und hatten sich bei Bier und Whiskey über
Fußball, Frauen und die Ungerechtigkeit der Welt im Allgemeinen
ausgetauscht, doch nach fast zweieinhalb Stunden waren weder Franks
Mitarbeit an dem neuen Vierjahresplan, noch die anstehenden
Gehaltsgespräche zur Sprache gekommen. Verbissen hatte er wieder und
wieder versucht, das Gespräch in die entsprechende Richtung zu
lenken, doch Robert tat so, als bemerke er es nicht. Dafür wurde er
mit jedem Schluck rührseliger.
"Frankie", lallte
er, "Ach Frankie." Eine Hand streifte seine Schulter,
landete auf seinem Schenkel. "Guck uns nur an, zwei alte
Freunde. Heh. Als wär'n wir zwanzig Jahre verheiratet."
Wenn Frank seinen Chef nicht
jede Woche mit einer anderen Frau gesehen hätte, hätte er in diesem
Moment keinen Zweifel daran gehabt, dass dieser schwul sei.
"Frankie, frankie. Ich
wollt' ja noch was mit dir bereden, mein Freund."
Robert straffte sich, ein
wenig Klarheit schien in seinen Blick zurückzukehren.
"Du bist ja schon 'ne
ganze Weile bei uns, nichwahr?"
"Acht Jahre",
bestätigte Frank. Und nicht eine Beförderung, fügte er im Stillen
hinzu.
"Ja, heh, ich erinnere
mich. Warst schon da, als ich die Abteilung gekriegt hab. Bist nen
guter Mann, echt. Ohne dich würde die ganze... die ganze verdammte
Abteilung zusammenfallen."
Er winkte unwirsch der
Bedienung. "Schätzchen, mach mal den Schampus auf. Aber das
gute Zeug, ja? Ne große Flasche für meinen Freund Frankie hier!"
Frank atmete auf. Er hätte
wohl innerlich jubeln sollen, aber in diesem Augenblick war er vor
allem müde und nervös. Er zog sich mit einer gemurmelten
Entschuldigung auf die Toilette zurück, wusch die verschwitzten
Hände und ging im Kopf noch einmal die Sätze durch, die er sich
zurechtgelegt hatte. Als er zurückkehrte, standen bereits zwei
schmale Sektgläser und eine ziemlich große Flasche auf dem Tisch.
Robert prostete ihm zu.
"Nur das Beste für
meinen Freund Frankie!", proklamierte er so laut, dass die
Gespräche ringsum für einen Augenblick verstummten.
Frank nahm, mit einer an den
Raum gerichteten, entschuldigenden Geste, hastig wieder Platz. Sein
Chef reichte ihm das andere Glas.
"Du wirst's noch weit
bringen", fuhr der in ernsten Tonfall fort. "Und weißt du
auch warum?"
Frank hob nur verwirrt die
Schultern. Er bevorzugte es, Gespräche dieser Art nüchtern und in
sauberen Klamotten zu führen.
"Weil ich dir dabei
helfen werde." Nun flüsterte er fast. "Aber du musst mir
auch nen Gefallen tun, ja? Zwischen alten Feunden? Bin ein bisschen
blank in letzter Zeit."
Frank schnaubte nur. Er
hatte derlei Scherzen nie viel abgewinnen können, erst recht nicht,
wenn es um seine beruflich Zukunft ging.
"Du hast doch bestimmt
noch 'n bisschen was auf der hohen Kante, eh, Kumpel?", fuhr
sein Vorgesetzter gnadenlos fort. "Kannst mir sicher für 'n
paar Monate aushelfen, ja?"
Frank zwang sich der
Höflichkeit halber zu einem leisen Kichern. Da packte der Mann
seinen Arm so heftig, dass er der Großteil seines Champagners
verschüttete.
"Das find' ich ganz und
gar nicht lustig!", zischte Robert. "Denkst du, das macht
mir Spaß, dich hier den ganzen Abend auszuhalten? Glaubst du, ich
mach das, weil ich dich so verdammt gern hab?" Er wurde lauter.
"Ich bin deine Zukunft, Frankie. Ohne mich machst du keinen
einzigen Schritt aus deiner Besenkammer raus. Überleg's dir. Alles,
was ich will, ist ein klitzekleines Bisschen von dem Reichtum, den
ich dir bescheren kann."
Frank riss sich los, rang
einen Augenblick um Atem. Er mochte Robert nicht besonders, aber es
war klar, dass er dem Mann dringend ein Taxi rufen sollte. Hastig
kramte er sein Smartphone aus der Hosentasche.
Robert schlug ihm das Gerät
aus der Hand. "He, ich rede mit dir!"
"Ich glaube, für heute
hatten wir genug", entschied Frank betont ruhig. "Wir
können morgen über alles -"
"Sie schreiben mir
überhaupt nichts vor, Herr Kellerich!", blaffte Robert. "Ich
bin immer noch ihr Vorgesetzter."
Frank entwand ihm mit
sanfter Gewalt die Champagnerflasche. "Dann lassen sie uns die
Angelegenheit doch morgen im Büro besprechen."
Das brachte den Mann
endgültig zur Weißglut. Kreischend schleuderte er die Flasche durch
den Raum. Eine ältere Frau entging dem Geschoss nur knapp.
"Betteln soll ich, ja?
Vor der ganzen verdammten Abteilung!" Er war aufgesprungen,
wedelte wild mit den Armen. "Vor dem perversen kleinen Frankie
soll ich buckeln, ja?" Er stampfte mit dem Fuß auf wie ein
bockiges Kind. "Ist das eines von ihren Machtspielchen? Geht
ihnen dabei einer ab? Ja, ich weiß ganz genau, was sie nachts
heimlich treiben, sie, sie Dreckshure! Sie können mich mal
kreuzweise, Frankie! Gefeuert sind sie! Sie und ihre ganze perverse
Sippe können von mir aus auf der Straße verrecken!"
Er fuhr herum und stürmte
auf die Straße. Frank, der inzwischen ebenfalls aufgesprungen war,
spürte jedes Augenpaar im Raum wie glühendes Eisen über seine Züge
streifen. Sein Herz raste. "Das lad ich alles auf Facebook!",
brüllte sein Chef von der anderen Straßenseite aus. Dann herrschte,
für einige endlose Minuten, bleierne Stille.
Irgendwoher nahm er die
Kraft, langsam den Raum zu durchqueren und seine Jacke von der
Garderobe zu zupfen. Er stammelte eine Entschuldigung, die vermutlich
niemand im Raum verstanden hatte, und wandte sich zum Gehen.
Jemand hielt ihn fest.
Räusperte sich. Langsam drehte Frank sich um.
Die Kellnerin ließ seine
Jacke los. "Die Rechnung."
Ihm wurde heiß und kalt.
Verzweifelt tastete er nach seiner Brieftasche, wohl wissend, dass er
darin außer einem Zwanziger und einer Handvoll Münzen nichts finden
würde. Sie würden die Poliziei rufen. Er würde die Nacht auf dem
Revier, wenn nicht gleich in U-Haft, verbringen, würde morgen
todmüde im Büro erscheinen und wer wusste schon, was Robert bis
dahin schon an Geschichten verbreitet hatte? Er würde mindestens
seinen Job verlieren, ganz gleichgültig, dass alles, was er tat,
vollkommen legal war, gleichgültig, dass es außer ihm selbst und
seinen Freunden eigentlich niemanden etwas anging. Er wäre nicht
mehr tragbar, würde es heißen. Er würde dem Firmenimage schaden.
Von irgendwoher, er wusste
es selbst nicht genau, rannen auf einmal heiße Tränen über sein
Gesicht. So stand er da, zitternd, verschwitzt, das viel zu bunte
Hemd gesprenkelt von Champagner und Tomatensoße, aller Augen auf
sich ruhend, in der teuersten Kneipe der Stadt und flennte wie ein
kleines Kind.
Und dann stand sie vor ihm.
Beherrscht, kalt, majestätisch, das schwarze Haar hochgesteckt, die
blauen Augen stechend. Schenkte ihm ein anerkennendes Lächeln. Und
applaudierte.
Er wusste bis heute nicht,
wie genau sie das zustandebrachte, aber Sybilla konnte jede nur
erdenkliche Situation mit einer einzigen, wohlgeplanten Geste an sich
reißen. Das war ihre Gabe. Und in diesem Augenblick, auch wenn er es
damals nicht verstand, ließ sie ihn an ihrer Gabe teilhaben. Dieser
Augenblick war so grotesk, so unvorstellbar unkorrekt, dass er
Franks Fähigkeit zur Scham ganz einfach überforderte. Als er den
Blick hob und durch den Raum schweifen ließ, war er nicht länger
Frank Kellerich, gescheiterter Büroangestellter, der sich vor
Peinlichkeit am liebsten auf ewig verkrochen hätte. Er war
derjenige, dessen Bewegungen jedes Augenpaar im Raum folgte, das
Zentrum, nein der Hauptdarsteller einer Geschichte, einer Aufführung,
die so absurd, so jenseits aller gesellschaftlichen Normen war, dass
die Welt für einen kurzen Augenblick vergessen hatte, zu
applaudieren. Und von irgendwoher, aus Trotz, Eitelkeit oder purer
Hysterie geboren, wallte ein unbezähmbarer Stolz in ihm auf.
Er verneigte sich
theatralisch.
Sybilla applaudierte noch
immer.
Und dann, leise, zögernd,
stimmten andere Hände mit ein.
Es war kein brandender
Applaus. Hochrufe oder Fußgetrampel hätte man hier vergeblich
erwartet. Es war ein dünnes, ängstliches, unsicheres Klatschen.
Aber ihm genügte es. Er hatte es sich, weiß Gott, redlich verdient.
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