Donnerstag, 19. Juni 2014

Romankonzepte: Frank Kehricht

Ich habe die Angewohnheit, hin und wieder einen Prolog oder eine einzelne Szene zu schreiben, das Ganze dann für ein paar Tage beiseitezulegen und, sofern es auf den zweiten Blick noch Potential hat, meiner stets wachsenden Sammlung an "könnte man ja mal" hinzuzufügen.

Naturgemäß entstehen so weit mehr Konzepte, als ich in meiner begrenzten Freizeit je umzusetzen in der Lage wäre, deshalb möchte ich einige meiner derzeitigen Lieblinge zumindest in dieser Form (zottelig und ungewaschen) der Öffentlichkeit (sprich: meinen zweieinhalb Lesern) zugänglich machen. Nunja, und sollte einer davon dann doch irgendwann einmal groß rauskommen, könnt ihr immerhin selbstgefällig behaupten, ihn schon als plärrendes Gör gekannt zu haben.

In diesem Sinne übergebe ich das Wort an Frank Kehricht:

Frank zog die Tür hinter sich zu und trat auf die Straße. Es war ein warmer, sonniger Montagmorgen, wie geschaffen für einen ausgedehnten Spaziergang. Da er dank eines unvorhergesehenen Trauerfalles erst gegen neun Uhr im Büro erwartet wurde, beschloss er, zumindest einen Teil der Strecke zu Fuß zurückzulegen. Für gewöhnlich hätte er sich auf dem Weg eine Kugel Eis oder ein belegtes Brötchen gegönnt. Zu dumm, dass er ausgerechnet heute seine Hose vergessen hatte.
Selbstverständlich hatte er versucht, die Brieftasche heimlich in eine seiner Jackentaschen zu schieben, und ebenso selbstverständlich hatte sie ihn dafür augenblicklich zur Schnecke gemacht. "Du weißt ganz genau", hatte sie gezischt, "dass ich mein Portemennaie grundsätzlich in der linken Hosentasche trage." Dem hatte er nichts entgegenzusetzen gehabt. So vergrub er also nur die Hände in den Jackentaschen (er fand immerhin eine halbe Packung alter Kaugummis), passierte in der vagen Hoffnung, nicht erkannt zu werden, mit gesenktem Haupt die Bäckerei Ecke Wermutstraße und trippelte barfuß die lange, wie immer reglos verharrende Rolltreppe zum gleichnamigen U-Bahnhof hinab.
Unten angekommen fiel ihm als Erstes auf, wie hoffnungslos verdreckt und uneinladend so ein Bahnhof doch war. Nicht, dass ihn das in irgendeiner Weise überrascht hätte, aber das Fehlen der üblichen Schutzschicht aus Baumwolle, Kunstleder und stabilen Gummisohlen verwandelte diesen sonst so nüchternen, unterkühlt-höflichen Fakt in feuchtwarmes, aufdringliches Empfinden. Er bildete sich ein, mit jedem Schritt das widerwillige Schmatzen vernehmen zu können, mit dem der klebrige Fußboden seine nackten Sohlen freigab.
Sein zweiter Gedanke galt den hier unten allgegenwärtigen Kameras. Die Vorstellung, dass genau in diesem Moment jemand eine monochrome, leicht verpixelte Version seines blanken Allerwertesten betrachtete, löste eine ganze Reihe von Empfindungen aus, mit denen er sich im Moment lieber nicht näher befassen wollte. Wenigstens war der Bahnsteig heute überraschend leer. Bis auf einen verhutzelten alten Flaschensammler, der ihn, von Mülleimer zu Mülleimer schlurfend, nicht einmal zu bemerken schien, konnte Frank niemanden entdecken. Dennoch wurde er mit jeder Minute nervöser.
Als endlich, dumpf quietschend, ein Zug vor ihm hielt, drängte er sich so schnell er konnte an den Aussteigenden vorbei und in eine der Sitzecken. Dies war nicht die Linie, die er normalerweise nahm, aber er hatte keine große Lust, weitere zehn Minuten auf dem, nun beinahe überfüllten, Bahnsteig zu verbringen. Seine Jacke war weit genug, dass er im Sitzen zumindest seine Blöße verdecken konnte. Als der Strom der Aussteigenden verebbt war, fand er sich, bis auf die beleibte Frau ihm gegenüber, die ihm unentwegt giftige Blicke zuwarf, und einen Mann, der nach Branntwein roch und zu schlafen schien, allein im Wagen. Gut, dann würden sie, aller Wahrscheinlichkeit nach, zumindest nicht kontrollieren. Er war schon ein paarmal erwischt worden, das letzte Mal mit einer Damenhandtasche voller lebender Schlangen, und wollte diesen Vorgang nach Möglichkeit nicht noch einmal wiederholen.
Ein bisschen musste er kichern, als er an den Zwischenfall mit den Strumpfbandnattern zurückdachte. Damals war ihm die Geschichte natürlich furchtbar peinlich gewesen, aber irgendwie war er auch ein wenig stolz darauf. Niemand, da war er sich sicher, konnte ein so absurdes und verkorkstes Leben vorweisen wie Frank Kehricht.

Es hatte vor beinahe zwei Jahren begonnen, in einer unanständig teuren Altstadtkneipe. Sie war allein gekommen, in elegantes Schwarz und eine Aura distanzierter Zurückhaltung gehüllt, er in einem fleckigen Hawaiihemd und im Gefolge seines lautstark "La Paloma" singenden Vorgesetzten. Der hatte ihn, nach dem obligatorischen monatlichen Abteilungsbuffet beim schäbigsten verfügbaren Italiener, verschwörerisch beiseitegenommen und "auf ein Bier unter Freunden" eingeladen. Frank hatte eigentlich keine große Lust gehabt, den Abend noch auszudehnen, konnte aber auch nicht bestreiten, dass es einiges zu bereden gab. So waren sie also von Kneipe zu Kneipe gezogen, waren schließlich im wohl teuersten Laden der Stadt gelandet und hatten sich bei Bier und Whiskey über Fußball, Frauen und die Ungerechtigkeit der Welt im Allgemeinen ausgetauscht, doch nach fast zweieinhalb Stunden waren weder Franks Mitarbeit an dem neuen Vierjahresplan, noch die anstehenden Gehaltsgespräche zur Sprache gekommen. Verbissen hatte er wieder und wieder versucht, das Gespräch in die entsprechende Richtung zu lenken, doch Robert tat so, als bemerke er es nicht. Dafür wurde er mit jedem Schluck rührseliger.

"Frankie", lallte er, "Ach Frankie." Eine Hand streifte seine Schulter, landete auf seinem Schenkel. "Guck uns nur an, zwei alte Freunde. Heh. Als wär'n wir zwanzig Jahre verheiratet."
Wenn Frank seinen Chef nicht jede Woche mit einer anderen Frau gesehen hätte, hätte er in diesem Moment keinen Zweifel daran gehabt, dass dieser schwul sei.
"Frankie, frankie. Ich wollt' ja noch was mit dir bereden, mein Freund."
Robert straffte sich, ein wenig Klarheit schien in seinen Blick zurückzukehren.
"Du bist ja schon 'ne ganze Weile bei uns, nichwahr?"
"Acht Jahre", bestätigte Frank. Und nicht eine Beförderung, fügte er im Stillen hinzu.
"Ja, heh, ich erinnere mich. Warst schon da, als ich die Abteilung gekriegt hab. Bist nen guter Mann, echt. Ohne dich würde die ganze... die ganze verdammte Abteilung zusammenfallen."
Er winkte unwirsch der Bedienung. "Schätzchen, mach mal den Schampus auf. Aber das gute Zeug, ja? Ne große Flasche für meinen Freund Frankie hier!"

Frank atmete auf. Er hätte wohl innerlich jubeln sollen, aber in diesem Augenblick war er vor allem müde und nervös. Er zog sich mit einer gemurmelten Entschuldigung auf die Toilette zurück, wusch die verschwitzten Hände und ging im Kopf noch einmal die Sätze durch, die er sich zurechtgelegt hatte. Als er zurückkehrte, standen bereits zwei schmale Sektgläser und eine ziemlich große Flasche auf dem Tisch. Robert prostete ihm zu.
"Nur das Beste für meinen Freund Frankie!", proklamierte er so laut, dass die Gespräche ringsum für einen Augenblick verstummten.
Frank nahm, mit einer an den Raum gerichteten, entschuldigenden Geste, hastig wieder Platz. Sein Chef reichte ihm das andere Glas.
"Du wirst's noch weit bringen", fuhr der in ernsten Tonfall fort. "Und weißt du auch warum?"
Frank hob nur verwirrt die Schultern. Er bevorzugte es, Gespräche dieser Art nüchtern und in sauberen Klamotten zu führen.
"Weil ich dir dabei helfen werde." Nun flüsterte er fast. "Aber du musst mir auch nen Gefallen tun, ja? Zwischen alten Feunden? Bin ein bisschen blank in letzter Zeit."
Frank schnaubte nur. Er hatte derlei Scherzen nie viel abgewinnen können, erst recht nicht, wenn es um seine beruflich Zukunft ging.
"Du hast doch bestimmt noch 'n bisschen was auf der hohen Kante, eh, Kumpel?", fuhr sein Vorgesetzter gnadenlos fort. "Kannst mir sicher für 'n paar Monate aushelfen, ja?"
Frank zwang sich der Höflichkeit halber zu einem leisen Kichern. Da packte der Mann seinen Arm so heftig, dass er der Großteil seines Champagners verschüttete.
"Das find' ich ganz und gar nicht lustig!", zischte Robert. "Denkst du, das macht mir Spaß, dich hier den ganzen Abend auszuhalten? Glaubst du, ich mach das, weil ich dich so verdammt gern hab?" Er wurde lauter. "Ich bin deine Zukunft, Frankie. Ohne mich machst du keinen einzigen Schritt aus deiner Besenkammer raus. Überleg's dir. Alles, was ich will, ist ein klitzekleines Bisschen von dem Reichtum, den ich dir bescheren kann."
Frank riss sich los, rang einen Augenblick um Atem. Er mochte Robert nicht besonders, aber es war klar, dass er dem Mann dringend ein Taxi rufen sollte. Hastig kramte er sein Smartphone aus der Hosentasche.
Robert schlug ihm das Gerät aus der Hand. "He, ich rede mit dir!"
"Ich glaube, für heute hatten wir genug", entschied Frank betont ruhig. "Wir können morgen über alles -"
"Sie schreiben mir überhaupt nichts vor, Herr Kellerich!", blaffte Robert. "Ich bin immer noch ihr Vorgesetzter."
Frank entwand ihm mit sanfter Gewalt die Champagnerflasche. "Dann lassen sie uns die Angelegenheit doch morgen im Büro besprechen."
Das brachte den Mann endgültig zur Weißglut. Kreischend schleuderte er die Flasche durch den Raum. Eine ältere Frau entging dem Geschoss nur knapp.
"Betteln soll ich, ja? Vor der ganzen verdammten Abteilung!" Er war aufgesprungen, wedelte wild mit den Armen. "Vor dem perversen kleinen Frankie soll ich buckeln, ja?" Er stampfte mit dem Fuß auf wie ein bockiges Kind. "Ist das eines von ihren Machtspielchen? Geht ihnen dabei einer ab? Ja, ich weiß ganz genau, was sie nachts heimlich treiben, sie, sie Dreckshure! Sie können mich mal kreuzweise, Frankie! Gefeuert sind sie! Sie und ihre ganze perverse Sippe können von mir aus auf der Straße verrecken!"
Er fuhr herum und stürmte auf die Straße. Frank, der inzwischen ebenfalls aufgesprungen war, spürte jedes Augenpaar im Raum wie glühendes Eisen über seine Züge streifen. Sein Herz raste. "Das lad ich alles auf Facebook!", brüllte sein Chef von der anderen Straßenseite aus. Dann herrschte, für einige endlose Minuten, bleierne Stille.
Irgendwoher nahm er die Kraft, langsam den Raum zu durchqueren und seine Jacke von der Garderobe zu zupfen. Er stammelte eine Entschuldigung, die vermutlich niemand im Raum verstanden hatte, und wandte sich zum Gehen.
Jemand hielt ihn fest. Räusperte sich. Langsam drehte Frank sich um.
Die Kellnerin ließ seine Jacke los. "Die Rechnung."
Ihm wurde heiß und kalt. Verzweifelt tastete er nach seiner Brieftasche, wohl wissend, dass er darin außer einem Zwanziger und einer Handvoll Münzen nichts finden würde. Sie würden die Poliziei rufen. Er würde die Nacht auf dem Revier, wenn nicht gleich in U-Haft, verbringen, würde morgen todmüde im Büro erscheinen und wer wusste schon, was Robert bis dahin schon an Geschichten verbreitet hatte? Er würde mindestens seinen Job verlieren, ganz gleichgültig, dass alles, was er tat, vollkommen legal war, gleichgültig, dass es außer ihm selbst und seinen Freunden eigentlich niemanden etwas anging. Er wäre nicht mehr tragbar, würde es heißen. Er würde dem Firmenimage schaden.
Von irgendwoher, er wusste es selbst nicht genau, rannen auf einmal heiße Tränen über sein Gesicht. So stand er da, zitternd, verschwitzt, das viel zu bunte Hemd gesprenkelt von Champagner und Tomatensoße, aller Augen auf sich ruhend, in der teuersten Kneipe der Stadt und flennte wie ein kleines Kind.

Und dann stand sie vor ihm. Beherrscht, kalt, majestätisch, das schwarze Haar hochgesteckt, die blauen Augen stechend. Schenkte ihm ein anerkennendes Lächeln. Und applaudierte.
Er wusste bis heute nicht, wie genau sie das zustandebrachte, aber Sybilla konnte jede nur erdenkliche Situation mit einer einzigen, wohlgeplanten Geste an sich reißen. Das war ihre Gabe. Und in diesem Augenblick, auch wenn er es damals nicht verstand, ließ sie ihn an ihrer Gabe teilhaben. Dieser Augenblick war so grotesk, so unvorstellbar unkorrekt, dass er Franks Fähigkeit zur Scham ganz einfach überforderte. Als er den Blick hob und durch den Raum schweifen ließ, war er nicht länger Frank Kellerich, gescheiterter Büroangestellter, der sich vor Peinlichkeit am liebsten auf ewig verkrochen hätte. Er war derjenige, dessen Bewegungen jedes Augenpaar im Raum folgte, das Zentrum, nein der Hauptdarsteller einer Geschichte, einer Aufführung, die so absurd, so jenseits aller gesellschaftlichen Normen war, dass die Welt für einen kurzen Augenblick vergessen hatte, zu applaudieren. Und von irgendwoher, aus Trotz, Eitelkeit oder purer Hysterie geboren, wallte ein unbezähmbarer Stolz in ihm auf.
Er verneigte sich theatralisch.
Sybilla applaudierte noch immer.
Und dann, leise, zögernd, stimmten andere Hände mit ein.
Es war kein brandender Applaus. Hochrufe oder Fußgetrampel hätte man hier vergeblich erwartet. Es war ein dünnes, ängstliches, unsicheres Klatschen. Aber ihm genügte es. Er hatte es sich, weiß Gott, redlich verdient.

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