Donnerstag, 9. Oktober 2014

Über den Rand: Teil 2


Kapitel 2: Lieber ein Waldbrand als gar kein Feuer

Meine Gedanken rasen, während wir, dem Gefühl nach stundenlang, ohne Zögern oder Pause durch die Dunkelheit stapfen. Ein Teil von mir – der analytische, abenteuerlustige – arbeitet mit fieberhafter Euphorie an der Entschlüsselung dieser fremden Welt. Ein anderer plant Fluchtwege und Verteidigungsstrategien und kann sich beim besten Willen nicht erinnern, warum genau ich einfach so vom Rand der verdammten Welt gesprungen bin. Beiden missfällt, dass ich in dieser Finsternis eine Sichtweite von vielleicht fünfzig Metern habe. Falls es hier keinen Tag-Nacht-Wechsel gibt, werde ich in etwa anderthalb Akkuladungen ganz schön dumm aus der Wäsche gucken.
Ich trete im Vorbeigehen gegen einen Baum. Er klingt hohl, aber nicht morsch. Nun ja, lieber ein Waldbrand als gar kein Licht…
„Ist das hier gutes Feuerholz?“
Seele bleibt stehen, sieht mich verwirrt an. „Kein Feuer.“ Es streicht mit einer Klaue über die Rinde. „Ist kalt, Tot.“
Ich schüttle den Kopf und ziehe langsam ein Feuerzeug aus der Tasche. Klick, klick. Verglichen mit dem grellen Weiß der Taschenlampe glimmt in meiner Rechten nur ein winziger Funken auf, aber die Züge meines seltsamen Begleiters verhärten sich augenblicklich.

"Kein Feuer", knurrt es erneut. "Immer kalt hier. Immer tot." Es kratzt sich agitiert am Hinterkopf. "War einst wärmer. Fleisch und Haut und zuckzuckzuckende Sehne. Jetzt nur noch Moos und Knochen." Es streicht erneut, beinahe liebevoll, über das, was ich gerade eben noch für Feuerholz gehalten hatte. Verlegen stecke ich das Feuerzeug wieder ein.
"Das alles hier hat... gelebt?" Der Gedanke beunruhigt mich irgendwie. "Wie ist es gestorben?"
Seele wendet sich ab. "Gegessen." Sein Tofall warnt vor weiteren Fragen.
"Verstehe", lüge ich. Was auch immer hier liegt, muss gewaltig gewesen sein. Schweigend setzen wir uns wieder in Bewegung. Es dauert eine ganze Weile, bis mir wieder eine Frage einfällt, die ich zu stellen wage.
"Wie lange lebst du hier schon?"
Keine Antwort.
"Ich meine, nur so ungefähr. Ein Jahr? Zehn? Hundert?"
"Keine Jahre."
"Dann... äh, Tage? Monate?"
Seele schüttelt das zottelige Haupt. "Nicht Tage, Monate, Jahre. Immer hier."
"Dann gibt es hier so etwas wie Tag und Nacht gar nicht?"
Erneut das Kopfschütteln. "Doch. War Tag. War Nacht."
"Dann... muss man die Tage doch zählen können. Wieviele Tage ist es her, dass..."
"Kann man nicht zählen", unterbricht Seele mich ungehalten. "Tag." Es streckt einen langen, weißen Arm aus, ungefähr in unsere Marschrichtung. "Nacht." Der Arm zeigt in die Gegenrichtung. "Ein Tag. Eine Nacht." Es betont jede Silbe, als würde es mit einem Dreijährigen reden.
Ich beschließe, wirklich erst einmal auf weitere Fragen zu verzichten. Zumindest, bis wir diesen... Knochenwald hinter uns gelassen haben.

Ich summe, um mir die Zeit zu vertreiben. Seele marschiert stumm vorneweg. Nach etwa fünfundzwanzig Liedern wird es heller: Ein schwacher, dunkelroter Schein, der ganz allmählich in ein warmes Orange übergeht. Endlich treten wir auf eine weite, aschgraue Ebene. Der Horizont steht buchstäblich in Flammen.
Seele breitet die Arme aus, grinst mich an. "Tag."
Ich weiß nicht so recht, was ich sagen soll. "Nun, es ist... ein wenig heller", gebe ich zu.
Seele wühlt mit beiden Händen in dem grauen Boden, ohne sich dazu bücken zu müssen, und hält mir schließlich eine Handvoll feinen Sandes unter die Nase. Vorsichtig schnuppere ich daran. Neben dem unverkennbaren Aroma nassen Hundes, das ich meinem Begleiter zuordne, meine ich, etwas einladend... Würziges wahrzunehmen, eine Mischung aus Zimt und Ingwer vielleicht, die mich vage an Weihnachtsgebäck erinnert. Woraus ich vornehmlich schließe, dass ich in dieser Welt meinen Sinnen nicht unbedingt trauen sollte.
Seele scheint keine derartigen Hemmungen zu haben. Es wälzt sich geradezu in der Substanz, reibt sie sich in Mund und Nacken und wirft ab und zu eine Handvoll davon in die Luft. Der Staub brennt in meinen Augen und bringt mich zum Husten.

Während ich der Kreatur bei ihrem Sandbad zusehe und über meine weiteren Pläne nachdenke, taucht gemächlich ein ovaler, schwarzer Fleck über dem flammenden Horizont auf. Der Kontrast zwischen grellen Flammen und dunkelgrauem Himmel macht es schwer, seiner Bewegung zu folgen - meine Augen tränen ohnehin schon - aber ich bin mir sicher, dass es ganz langsam größer wird. Was, wenn ich die Physik meiner Heimatwelt - der Gedanke ist mir immer noch ein wenig fremd - zugrundelege, vermutlich bedeutet, dass es auf uns zukommt.
Ich zeige mit ausgestrecktem Arm auf den Fleck. "Was ist das?"
Seele hält in seinem Sandbad inne. Kratzt sich am Kopf. "Vielleicht... Mond?" murmelt es, beinahe unhörbar.
"Der Mond?"
"Nein, nein, nein, ist zu groß, zu wabbelig", knurrt es. "Fliegt zu tief. Vielleicht ein Vogel?" Es blickt mich hoffnungsvoll an.
"Ich... glaube nicht. Es sieht nicht so aus, als würde sich der Fleck aus eigener Kraft bewegen. Eher, als würde er vom... Wind getrieben? Gibt es hier Wind? Außerdem..."
Seele springt auf. "Müssen weg."
"Warum? Was ist es?"
"Weiß nicht."
Nun, das mag nicht der schlechteste Grund sein. Immerhin kommt was-auch-immer stetig auf uns zu. Wieder hastet Seele voran und ich beeile mich, Schritt zu halten. Der feine Sand dringt fast augenblicklich in meine Schuhe - ganz zu schweigen von meiner Nase - aber dafür geht es erst sacht, dann immer steiler bergab. Falls was-auch-immer über Augen verfügt, muss es uns spätestens an der gewaltigen Staubfahne erkennen, die wir in unserer Hast hinterlasssen. Immerhin: Falls es darüberhinaus über Schleimhäute verfügt, wird es die Wolke wohl großräumig meiden wollen.

Als Seele schließlich stehenbleibt, bin ich überzeugt davon, mindestens einen Lungenflügel in einem besonders heftigen Hustenanfall verloren zu haben. Es dauert unangenehm lange, bis ich wieder einigermaßen zu Atem gekommen bin. Meine Sicht ist immer noch verschwommen und ich möchte den Rest meines Lebens damit zubringen, mir die Augen auszukratzen. Außerdem ist es... wieder dunkel?
Noch immer halb blind krame ich nach meiner Lampe. Klick. Augen wischen. Schroffe Sandsteinwände. Eine Höhle? Die Füße noch immer in feinem Sand versunken. Hinter mir fahles Licht. Der Eingang ist gut mannshoch und fünfzehn, vielleicht zwanzig Schritt entfernt. Vor mir gelblich-grauer Fels. Seele verschwindet hinter einem unförmigen Vorsprung. Ich schlurfe hastig hinterher. Ein langer, gewundener Tunnel in hellgrau, gelb und rostbraun. Der Boden bleibt uneben. Von der Decke rieselt Sand. In einer kleinen Ausbuchtung steht trübes Wasser. Seele drängt sich hinein.
"Weit genug", krächzt es. "Wird uns nicht finden."
Ich lehne mich erschöpft gegen den Fels. "Warten wir hier?"
"Warten. Ja. Oder weitergehen."
"Was befindet sich vor uns?"
"Grässlich grummelige Gammelgnome. Penetrante Pilzpocken. Braune Bücherberge."
"Ich hatte dich nicht für einen Dichter gehalten."
Ein schiefes Grinsen. "Jede Sprache", erinnert es selbstgefällig.
Nun gut. 'Pilzpocken' klingt nicht gerade einladend, aber mit Gnomen und Bergen von Büchern weiß ich umzugehen. Und meine Unruhe überwiegt die Vorsicht. Ich stecke ohnehin schon bis zum Bauchnabel in dieser merkwürdigen Welt. Lieber ein Waldbrand, denke ich schmunzelnd, als gar kein Feuer.
"Dann lass uns weitergehen. Ich möchte diese Gnome gern kennenlernen."
Seele verzieht ein wenig das Gesicht, nickt aber und führt mich weiter in den finsteren Tunnel.

[Teil 3]

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