Freitag, 17. Oktober 2014

Über den Rand: Teil 3

Kapitel 3: Grummelige Gammelgnome

Der Tunnel ist länger, als ich erwartet hatte. Windet sich, bis mein Richtungssinn entnervt das Handtuch wirft. Verzweigt sich öfter, als ich zählen kann. Ich bleibe mehrmals stehen, um jeweils einen Liter Sand aus meinen Schuhen zu gießen. Das Aroma exotischer Gewürzmischungen ist allgegenwärtig. Immer öfter baumeln jetzt dunkelgrüne Ranken von der Decke oder schlängeln sich am zunehmend porösen Fels empor. Auch sie riechen nach Essen, aber ich wage nicht, die fleischigen Gewächse zu berühren. Gelegentlich passieren wir flache Pfützen. Von Durst getrieben probiere ich einen Tropfen. Er ist ekelhaft salzig und brennt auf der Zunge. Ich habe immer mehr das Gefühl, über den Boden eines uralten, erst kürzlich ausgetrockneten Ozeans zu wandern.

Irgendwann erreichen wir eine niedrige, grob gezimmerte Holztür, die an rostigen Scharnieren in einem Loch in der Wand hängt. Flackerndes Licht dringt durch die Ritzen. Ich knipse die Lampe aus und öffne vorsichtig die Tür. Sie quietscht erbärmlich. Dahinter, in einer kleinen Kammer, auf einem ebenso morschen und grob gezimmerten Holzstuhl, sitzt eine kindgroße, verhutzelte Gestalt in Lumpen, die vor ein oder zwei Jahrhunderten sicherlich einmal farbenfroh gewesen sein mochten. Grün-graue Dreads hängen bis fast auf den Boden. Erst als wir vorsichtig eintreten, hebt die Gestalt müde den Kopf.
Zwei eisgraue Augen, die von unvorstellbarem Alter sprechen. Von Überdruss und Resignation. Der Mund ein dünner Strich. Die Wangen eingefallen wie ein misslungenes Soufflé. Die Haut ist fleckig und übersät von grünlichen Warzen.
Am schlimmsten ist die Stimme. "Ja bitte?"
"Verzeiht die Störung", setze ich an, "wir suchen..."
Die Augen des Gnoms werden glasig. Sein Blick wandert zur Decke.
"Äh, Entschuldigung, wir sind nur auf der Durchreise. Mein Begleiter hier meint..."
"Besucher begehren Bücherbetrachtung", wirft Seele ein.
Der Gnom fixiert uns mit sichtlicher Anstrengung.
"Braune Bücherberge betrachten, bitte? Benötigen Beleuchtung."
Die Gestalt nickt und erhebt sich gemächlich aus ihrem Stuhl. Schlurft ein paar Schritte in Richtung einer weiteren, niedrigen Tür. "Fremde folgen."

Im Nebenraum brennen Kerzen auf jedem halbwegs ebenen Vorsprung. Ein niedriger Holztisch und einige eisenbeschlagene Truhen bilden den Rest der Einrichtung. Wortlos kramt der Gnom in einer davon, reicht uns graue Lumpenbündel und eine faustgroße, rostige Laterne, die statt einer Kerze mit irgendeiner grünlich leuchtenden Flüssigkeit gefüllt ist.
"Verlangen Vorsicht. Feuerverzicht", knurrt der Gnom. "Wegen wertvoller Werke. Flüstern vernüftig. Fliegen verboten. Umhänge unbedingt überwerfen."
Ich nicke verwirrt. Der Stoff ist grob und riecht modrig, aber ich wage nicht, zu widersprechen. Seele zwängt sich behende in eine der Kutten. Der Anblick ist unbeschreiblich.
Es kostet mich einige Überwindung, den 'Umhang' über meinen Kopf zu ziehen. Ich fühle mich ein wenig an die Bergwerksbesichtigungen meiner Kindheit erinnert.
Der Gnom drängt uns in einen weiteren, niedrigen Tunnel, der steil bergab führt. Sand weicht in Granit gehauenen Treppenstufen. Das Licht meiner Laterne reicht vielleicht zehn, fünfzehn Meter weit. Ich versuche mehrmals, unseren Führer in ein Gespräch zu verwickeln, muss aber immer wieder Pausen einlegen, bis mir geeignete Alliterationen einfallen.
"Warum Wortspiele?", frage ich schließlich. "Alles Alliterationen. Absicht?"
Der Gnom überlegt eine Weile. "Verehrter Volkssport, verstehen? Leute lungern lethargisch. Langeweile lähmt."
Pause. Schlurfende Füße auf zu kleinen Treppenstufen.
"Stilvolle Sprache sättigt Sinne", fährt er schließlich fort. "Motiviert müde Menschen."
"Seltsames System", murmel ich, mehr an mich selbst gewandt. Dieser Habitus ist irgendwie ansteckend.
Endlich erreichen wir das Ende der Treppe, kriechen unter einem ganz besonders niedrigen Überhang hindruch - selbst der Gnom muss sich ducken - und... stehen am Rande einer gewaltigen, geschäftigen, wuselnden, unterirdischen Stadt.
"Bittesehr. Betretet Bücherstolz. Bleibt..." er stockt, senkt die Stimme zu einem Flüstern. "Bleibt nicht zu lange."
Ehe ich etwas erwidern kann, fährt er auf dem Absatz herum und huscht zurück in die Schwärze des Tunnels.
Seele deutet mit einer Klaue auf das Gewimmel. "Bittesehr. Gnome und Bücher."

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