Freitag, 17. Oktober 2014

Über den Rand: Teil 3

Kapitel 3: Grummelige Gammelgnome

Der Tunnel ist länger, als ich erwartet hatte. Windet sich, bis mein Richtungssinn entnervt das Handtuch wirft. Verzweigt sich öfter, als ich zählen kann. Ich bleibe mehrmals stehen, um jeweils einen Liter Sand aus meinen Schuhen zu gießen. Das Aroma exotischer Gewürzmischungen ist allgegenwärtig. Immer öfter baumeln jetzt dunkelgrüne Ranken von der Decke oder schlängeln sich am zunehmend porösen Fels empor. Auch sie riechen nach Essen, aber ich wage nicht, die fleischigen Gewächse zu berühren. Gelegentlich passieren wir flache Pfützen. Von Durst getrieben probiere ich einen Tropfen. Er ist ekelhaft salzig und brennt auf der Zunge. Ich habe immer mehr das Gefühl, über den Boden eines uralten, erst kürzlich ausgetrockneten Ozeans zu wandern.

Irgendwann erreichen wir eine niedrige, grob gezimmerte Holztür, die an rostigen Scharnieren in einem Loch in der Wand hängt. Flackerndes Licht dringt durch die Ritzen. Ich knipse die Lampe aus und öffne vorsichtig die Tür. Sie quietscht erbärmlich. Dahinter, in einer kleinen Kammer, auf einem ebenso morschen und grob gezimmerten Holzstuhl, sitzt eine kindgroße, verhutzelte Gestalt in Lumpen, die vor ein oder zwei Jahrhunderten sicherlich einmal farbenfroh gewesen sein mochten. Grün-graue Dreads hängen bis fast auf den Boden. Erst als wir vorsichtig eintreten, hebt die Gestalt müde den Kopf.
Zwei eisgraue Augen, die von unvorstellbarem Alter sprechen. Von Überdruss und Resignation. Der Mund ein dünner Strich. Die Wangen eingefallen wie ein misslungenes Soufflé. Die Haut ist fleckig und übersät von grünlichen Warzen.
Am schlimmsten ist die Stimme. "Ja bitte?"
"Verzeiht die Störung", setze ich an, "wir suchen..."
Die Augen des Gnoms werden glasig. Sein Blick wandert zur Decke.
"Äh, Entschuldigung, wir sind nur auf der Durchreise. Mein Begleiter hier meint..."
"Besucher begehren Bücherbetrachtung", wirft Seele ein.
Der Gnom fixiert uns mit sichtlicher Anstrengung.
"Braune Bücherberge betrachten, bitte? Benötigen Beleuchtung."
Die Gestalt nickt und erhebt sich gemächlich aus ihrem Stuhl. Schlurft ein paar Schritte in Richtung einer weiteren, niedrigen Tür. "Fremde folgen."

Im Nebenraum brennen Kerzen auf jedem halbwegs ebenen Vorsprung. Ein niedriger Holztisch und einige eisenbeschlagene Truhen bilden den Rest der Einrichtung. Wortlos kramt der Gnom in einer davon, reicht uns graue Lumpenbündel und eine faustgroße, rostige Laterne, die statt einer Kerze mit irgendeiner grünlich leuchtenden Flüssigkeit gefüllt ist.
"Verlangen Vorsicht. Feuerverzicht", knurrt der Gnom. "Wegen wertvoller Werke. Flüstern vernüftig. Fliegen verboten. Umhänge unbedingt überwerfen."
Ich nicke verwirrt. Der Stoff ist grob und riecht modrig, aber ich wage nicht, zu widersprechen. Seele zwängt sich behende in eine der Kutten. Der Anblick ist unbeschreiblich.
Es kostet mich einige Überwindung, den 'Umhang' über meinen Kopf zu ziehen. Ich fühle mich ein wenig an die Bergwerksbesichtigungen meiner Kindheit erinnert.
Der Gnom drängt uns in einen weiteren, niedrigen Tunnel, der steil bergab führt. Sand weicht in Granit gehauenen Treppenstufen. Das Licht meiner Laterne reicht vielleicht zehn, fünfzehn Meter weit. Ich versuche mehrmals, unseren Führer in ein Gespräch zu verwickeln, muss aber immer wieder Pausen einlegen, bis mir geeignete Alliterationen einfallen.
"Warum Wortspiele?", frage ich schließlich. "Alles Alliterationen. Absicht?"
Der Gnom überlegt eine Weile. "Verehrter Volkssport, verstehen? Leute lungern lethargisch. Langeweile lähmt."
Pause. Schlurfende Füße auf zu kleinen Treppenstufen.
"Stilvolle Sprache sättigt Sinne", fährt er schließlich fort. "Motiviert müde Menschen."
"Seltsames System", murmel ich, mehr an mich selbst gewandt. Dieser Habitus ist irgendwie ansteckend.
Endlich erreichen wir das Ende der Treppe, kriechen unter einem ganz besonders niedrigen Überhang hindruch - selbst der Gnom muss sich ducken - und... stehen am Rande einer gewaltigen, geschäftigen, wuselnden, unterirdischen Stadt.
"Bittesehr. Betretet Bücherstolz. Bleibt..." er stockt, senkt die Stimme zu einem Flüstern. "Bleibt nicht zu lange."
Ehe ich etwas erwidern kann, fährt er auf dem Absatz herum und huscht zurück in die Schwärze des Tunnels.
Seele deutet mit einer Klaue auf das Gewimmel. "Bittesehr. Gnome und Bücher."

Donnerstag, 9. Oktober 2014

Über den Rand: Teil 2


Kapitel 2: Lieber ein Waldbrand als gar kein Feuer

Meine Gedanken rasen, während wir, dem Gefühl nach stundenlang, ohne Zögern oder Pause durch die Dunkelheit stapfen. Ein Teil von mir – der analytische, abenteuerlustige – arbeitet mit fieberhafter Euphorie an der Entschlüsselung dieser fremden Welt. Ein anderer plant Fluchtwege und Verteidigungsstrategien und kann sich beim besten Willen nicht erinnern, warum genau ich einfach so vom Rand der verdammten Welt gesprungen bin. Beiden missfällt, dass ich in dieser Finsternis eine Sichtweite von vielleicht fünfzig Metern habe. Falls es hier keinen Tag-Nacht-Wechsel gibt, werde ich in etwa anderthalb Akkuladungen ganz schön dumm aus der Wäsche gucken.
Ich trete im Vorbeigehen gegen einen Baum. Er klingt hohl, aber nicht morsch. Nun ja, lieber ein Waldbrand als gar kein Licht…
„Ist das hier gutes Feuerholz?“
Seele bleibt stehen, sieht mich verwirrt an. „Kein Feuer.“ Es streicht mit einer Klaue über die Rinde. „Ist kalt, Tot.“
Ich schüttle den Kopf und ziehe langsam ein Feuerzeug aus der Tasche. Klick, klick. Verglichen mit dem grellen Weiß der Taschenlampe glimmt in meiner Rechten nur ein winziger Funken auf, aber die Züge meines seltsamen Begleiters verhärten sich augenblicklich.

"Kein Feuer", knurrt es erneut. "Immer kalt hier. Immer tot." Es kratzt sich agitiert am Hinterkopf. "War einst wärmer. Fleisch und Haut und zuckzuckzuckende Sehne. Jetzt nur noch Moos und Knochen." Es streicht erneut, beinahe liebevoll, über das, was ich gerade eben noch für Feuerholz gehalten hatte. Verlegen stecke ich das Feuerzeug wieder ein.
"Das alles hier hat... gelebt?" Der Gedanke beunruhigt mich irgendwie. "Wie ist es gestorben?"
Seele wendet sich ab. "Gegessen." Sein Tofall warnt vor weiteren Fragen.
"Verstehe", lüge ich. Was auch immer hier liegt, muss gewaltig gewesen sein. Schweigend setzen wir uns wieder in Bewegung. Es dauert eine ganze Weile, bis mir wieder eine Frage einfällt, die ich zu stellen wage.
"Wie lange lebst du hier schon?"
Keine Antwort.
"Ich meine, nur so ungefähr. Ein Jahr? Zehn? Hundert?"
"Keine Jahre."
"Dann... äh, Tage? Monate?"
Seele schüttelt das zottelige Haupt. "Nicht Tage, Monate, Jahre. Immer hier."
"Dann gibt es hier so etwas wie Tag und Nacht gar nicht?"
Erneut das Kopfschütteln. "Doch. War Tag. War Nacht."
"Dann... muss man die Tage doch zählen können. Wieviele Tage ist es her, dass..."
"Kann man nicht zählen", unterbricht Seele mich ungehalten. "Tag." Es streckt einen langen, weißen Arm aus, ungefähr in unsere Marschrichtung. "Nacht." Der Arm zeigt in die Gegenrichtung. "Ein Tag. Eine Nacht." Es betont jede Silbe, als würde es mit einem Dreijährigen reden.
Ich beschließe, wirklich erst einmal auf weitere Fragen zu verzichten. Zumindest, bis wir diesen... Knochenwald hinter uns gelassen haben.

Ich summe, um mir die Zeit zu vertreiben. Seele marschiert stumm vorneweg. Nach etwa fünfundzwanzig Liedern wird es heller: Ein schwacher, dunkelroter Schein, der ganz allmählich in ein warmes Orange übergeht. Endlich treten wir auf eine weite, aschgraue Ebene. Der Horizont steht buchstäblich in Flammen.
Seele breitet die Arme aus, grinst mich an. "Tag."
Ich weiß nicht so recht, was ich sagen soll. "Nun, es ist... ein wenig heller", gebe ich zu.
Seele wühlt mit beiden Händen in dem grauen Boden, ohne sich dazu bücken zu müssen, und hält mir schließlich eine Handvoll feinen Sandes unter die Nase. Vorsichtig schnuppere ich daran. Neben dem unverkennbaren Aroma nassen Hundes, das ich meinem Begleiter zuordne, meine ich, etwas einladend... Würziges wahrzunehmen, eine Mischung aus Zimt und Ingwer vielleicht, die mich vage an Weihnachtsgebäck erinnert. Woraus ich vornehmlich schließe, dass ich in dieser Welt meinen Sinnen nicht unbedingt trauen sollte.
Seele scheint keine derartigen Hemmungen zu haben. Es wälzt sich geradezu in der Substanz, reibt sie sich in Mund und Nacken und wirft ab und zu eine Handvoll davon in die Luft. Der Staub brennt in meinen Augen und bringt mich zum Husten.

Während ich der Kreatur bei ihrem Sandbad zusehe und über meine weiteren Pläne nachdenke, taucht gemächlich ein ovaler, schwarzer Fleck über dem flammenden Horizont auf. Der Kontrast zwischen grellen Flammen und dunkelgrauem Himmel macht es schwer, seiner Bewegung zu folgen - meine Augen tränen ohnehin schon - aber ich bin mir sicher, dass es ganz langsam größer wird. Was, wenn ich die Physik meiner Heimatwelt - der Gedanke ist mir immer noch ein wenig fremd - zugrundelege, vermutlich bedeutet, dass es auf uns zukommt.
Ich zeige mit ausgestrecktem Arm auf den Fleck. "Was ist das?"
Seele hält in seinem Sandbad inne. Kratzt sich am Kopf. "Vielleicht... Mond?" murmelt es, beinahe unhörbar.
"Der Mond?"
"Nein, nein, nein, ist zu groß, zu wabbelig", knurrt es. "Fliegt zu tief. Vielleicht ein Vogel?" Es blickt mich hoffnungsvoll an.
"Ich... glaube nicht. Es sieht nicht so aus, als würde sich der Fleck aus eigener Kraft bewegen. Eher, als würde er vom... Wind getrieben? Gibt es hier Wind? Außerdem..."
Seele springt auf. "Müssen weg."
"Warum? Was ist es?"
"Weiß nicht."
Nun, das mag nicht der schlechteste Grund sein. Immerhin kommt was-auch-immer stetig auf uns zu. Wieder hastet Seele voran und ich beeile mich, Schritt zu halten. Der feine Sand dringt fast augenblicklich in meine Schuhe - ganz zu schweigen von meiner Nase - aber dafür geht es erst sacht, dann immer steiler bergab. Falls was-auch-immer über Augen verfügt, muss es uns spätestens an der gewaltigen Staubfahne erkennen, die wir in unserer Hast hinterlasssen. Immerhin: Falls es darüberhinaus über Schleimhäute verfügt, wird es die Wolke wohl großräumig meiden wollen.

Als Seele schließlich stehenbleibt, bin ich überzeugt davon, mindestens einen Lungenflügel in einem besonders heftigen Hustenanfall verloren zu haben. Es dauert unangenehm lange, bis ich wieder einigermaßen zu Atem gekommen bin. Meine Sicht ist immer noch verschwommen und ich möchte den Rest meines Lebens damit zubringen, mir die Augen auszukratzen. Außerdem ist es... wieder dunkel?
Noch immer halb blind krame ich nach meiner Lampe. Klick. Augen wischen. Schroffe Sandsteinwände. Eine Höhle? Die Füße noch immer in feinem Sand versunken. Hinter mir fahles Licht. Der Eingang ist gut mannshoch und fünfzehn, vielleicht zwanzig Schritt entfernt. Vor mir gelblich-grauer Fels. Seele verschwindet hinter einem unförmigen Vorsprung. Ich schlurfe hastig hinterher. Ein langer, gewundener Tunnel in hellgrau, gelb und rostbraun. Der Boden bleibt uneben. Von der Decke rieselt Sand. In einer kleinen Ausbuchtung steht trübes Wasser. Seele drängt sich hinein.
"Weit genug", krächzt es. "Wird uns nicht finden."
Ich lehne mich erschöpft gegen den Fels. "Warten wir hier?"
"Warten. Ja. Oder weitergehen."
"Was befindet sich vor uns?"
"Grässlich grummelige Gammelgnome. Penetrante Pilzpocken. Braune Bücherberge."
"Ich hatte dich nicht für einen Dichter gehalten."
Ein schiefes Grinsen. "Jede Sprache", erinnert es selbstgefällig.
Nun gut. 'Pilzpocken' klingt nicht gerade einladend, aber mit Gnomen und Bergen von Büchern weiß ich umzugehen. Und meine Unruhe überwiegt die Vorsicht. Ich stecke ohnehin schon bis zum Bauchnabel in dieser merkwürdigen Welt. Lieber ein Waldbrand, denke ich schmunzelnd, als gar kein Feuer.
"Dann lass uns weitergehen. Ich möchte diese Gnome gern kennenlernen."
Seele verzieht ein wenig das Gesicht, nickt aber und führt mich weiter in den finsteren Tunnel.

[Teil 3]

Mittwoch, 1. Oktober 2014

Donnerstag


Schon wieder zu viele Nächte in Folge durchgemacht und trotzdem nur die Hälfte geschafft. Wobei sich einem irgendwann die These aufdrängt, dass besagte "Hälfte" abhängig von einer stets proportional zum erledigten Pensum wachsenden Gesamtmenge sein könnte. Wenn man vom Meeting zur Telko zum Fernsehinterview zum nächsten Meeting hastet, nebenbei zwei Seiten Vektoroperationen im Kopf optimiert, weil man ums Verrecken keinen funktionierenden Kughelschreiber aufgetrieben kriegt. Alles in der vagen Hoffnung, nächsten Monat vielleicht schon wieder umziehen zu können. Hamburg wäre nett. Aber erst einmal Mittagspause, die ist leider vorgeschrieben. Auf dem Weg zum Supermarkt die Einkäufe geplant, bis ich dort ankomme schon wieder halb vergessen. Mechanisch die Liste abarbeiten. Kasse. Fahrstuhl. Schreibtisch. Das waren jetzt zehn Minuten. Twitter überbrückt den Rest. Ach ja, das Fernsehen. Mustererkennung erklären, in maximal zwei Sätzen. Flashback zum Deutschabi. Was ist ein Quellcode? Was sind ihre größten Stärken? Warum trinken ihre Kollegen nicht? Nerven wir sie? Was genau tut dieser Code?

Lächeln, Hände schütteln – sie brauchen nicht aufzustehen – weitermachen. Ich muss in zwei Tagen Perl lernen. Telefon. Der Kunde. Nein, Perl ist überhaupt nicht wichtig, wir brauchen nur SQL. Wie viele Jahre Projekterfahrung haben sie damit? Nachrechnen. Immer noch kein Kuli. Lächeln, auf wiederhören, weitermachen. Eigentlich bin ich ja krank. Aber das geht jetzt nicht, ich brauch die Überstunden. Es wird dunkel. Gute Stunde noch. Bin heute nicht mal der Letzte.

Zuhause erstmal Getränke kaltstellen, duschen, masturbieren. Licht geht wieder nicht. Zu spät, um den Elektriker anzurufen. Morgen, ganz bestimmt.

Mail vom Amt. Sehr geehrter Anwender, zu Vorgang Neunstellige-Nummer haben wir ihnen eine weitere Nummer hinterlegt. Bitte bewahren Sie diese Nummer gut auf, da sie unmittelbar nach dem Abrufen gelöscht wird. Dazu meine Logindaten, im Klartext. Vollprofis.
Nachricht vom Grafiker. Zwölf neue Dateien. Muss morgen früh aufstehen, aber das schaff ich noch. Nebenbei Skype und Anime. Ich brauche echt mehr Bildschirme. Um zwei Uhr bin ich eindeutig zu müde zum Schlafen. Dringende Supportanfrage gegen drei. Die Karten sind alle, wird sollten also dringend aufhören, die zu verkaufen. Leuchtet mir ein. Schnell zwei Texte geändert, ein Feld gesperrt. Das Shopsystem implodiert. Hm. Sieht so aus, als würd' ich heute durchmachen.


[PS: Der Schreibfehler da oben hat Asyl beantragt und darf bleiben.]

Freitag, 12. September 2014

Über den Rand: Teil 1

Da mir aktuell die Zeit für den nächsten Mammutroman fehlt, ich das Schreiben aber auch nicht gänzlich sein lassen will, probiere ich es hier einmal mit einem etwas anderen Format. Der folgende Text, zur Zeit nichts weiter als ein vages Konzept, wird ca. zwei- bis dreimal pro Woche ergänzt (Edit: Höhö, ja klar, du Optimist...), bis ein in sich geschlossenes Kapitel entstanden ist. Bei Gefallen wird die Serie fortgesetzt, ansonsten versuche ich mich an der nächsten Erzählung.

Aufgrund der Kürze der Fragmente werde ich nicht für jedes Update einen eigenen Post schreiben, vermutlich eher einen pro Kapitel.

Nun denn, so lasset uns beginnen...


Über den Rand




Es ist kalt hier, am Ende der Welt. Ein winziger Kreis aus Licht, umringt von undurchdringlichem Nebel. Und danach? Wer kann das sagen? Gleichgültig, ich werde es bald erfahren. Hinter mir leise Stimmen und eine fröhliche, seltsam vertraute Melodie. Knisternde Flammen. Behaglichkeit. Vor mir ein graues Nichts.
Für einen winzigen Augenblick zögere ich. Lausche. Atme tief ein. Setze langsam einen Fuß vor den anderen. Der Nebel umgibt mich jetzt völlig, dämpft meine Sinne, saugt den letzten Rest Wärme aus meinen Knochen. Mein Atem gefriert in meinem Bart. Das Gras unter meinen Sohlen knirscht und splittert. Der nächste Schritt geht ins Leere. Ich kann nicht sagen, ob ich schwebe oder falle. Grau weicht schlagartig tiefem Schwarz. Die Stimmen sind verstummt. Nur eine vertraute Melodie folgt mir leise über den Rand.
Für eine kleine Ewigkeit taumel ich durch leeren Raum. Oben und unten, innen und außen sind Konzepte ohne Bedeutung. Selbst die Kälte hat ihren Biss verloren. Die Melodie ist jetzt fast verstummt. Ganz leise kann ich sie noch vernehmen. Oder ist das bloß ein Echo in meinem Kopf? Ein vages Gefühl der Angst überkommt mich. Ich ahne, dass auf die Stille etwas folgen muss.

Ganz leise, zögerlich, beginne ich zu summen. Gegen die Angst. Gegen die Stille. Um irgendwie diese allumfassende Leere zu füllen. Der dünne Ton verhallt beinahe unhörbar. Ich summe lauter. Klatsche in die Hände. Singe schließlich aus vollem Hals. Ergebe mich ganz der Melodie. Die Stille ist noch da, schwarz und allumfassend, aber solange jede Faser meines Leibes vibriert, bin ich vollständig. Und mit der Musik kehrt auch die Zeit in meine kleine Welt zurück. Zwei, drei, fünf Lieder später ist mir beinahe warm. Erst nach etwa fünfzig beginne ich mich zu fragen, ob ich mich geirrt habe. Ob diese konturlose Leere vielleicht doch alles ist, was sich hinter dem Rand der Welt verbirgt. Werde ich für den Rest meiner Existenz singend durch das Nichts taumeln? So poetisch der Gedanke auch ist, er beunruhigt mich. Und enttäuscht ein wenig. Ich hatte mehr erwartet.

Meine Unruhe wächst. Und mit ihr kehrt die Angst zurück. Gleichzeitig weicht das Gefühl der Schwerelosigkeit einer Ahnung, dass dort vor – unter? – mir noch etwas sein muss. Etwas Großes, Massives, das mit bedrohlicher Geschwindigkeit näherkommt.
Etwas peitscht knallend über mein Gesicht, hinterlässt einen grellroten Striemen. Dumpfes Rauschen. Wind? Ein zweiter Schlag trifft meinen Arm. Ich rolle mich instinktiv zusammen. Der dritte Aufprall treibt mir die Luft aus den Lungen. Mein Kopf dreht sich und in den Augenwinkeln tanzen bunte Glühwürmchen.
Es dauert eine ganze Weile, bis ich mir meiner Umgebung bewusst werde. Mit der Schwerkraft scheint auch eine Art… Boden zurückgekehrt zu sein: Ein feuchtes, modriges, seltsam federndes Etwas, das sich an meinen Rücken schmiegt. Ein leises Knarren irgendwo über mir. Die Luft schmeckt nach abgestandenem Wasser.
Ganz vorsichtig richte ich mich auf. Der Boden ist glitschig und uneben. Meine Rechte ertastet etwas, das ich für einen dünnen Baumstamm halte. Die Rinde ist hart und rissig. Allmählich beruhigt sich mein Atem, auch wenn mir noch jeder Knochen im Leib wehtut. Aber ich bin ja selber Schuld. Hätte mir ja denken können, dass ein Spaziergang über den Rand der Welt nicht ohne kleinere Blessuren abläuft. Nun gut, wie geht es jetzt weiter? Erst einmal brauche ich Licht.

Zum Glück verlasse ich das Haus nicht ohne eine leistungsstarke Taschenlampe. Zwei Handgriffe später teilt ein grellweißer Kegel die Nacht. Und ein graues, kindgroßes Zottelwesen blinzelt mir verstört entgegen. Für einen Augenblick starren wir uns regungslos an. Die Gestalt steht aufrecht, auf zwei dürren, behaarten Beinen. Schlaksige Arme hängen bis zum Boden herab. Schwarze, pupillenlose Augen beherrschen ein kindlich-naives, beinahe dümmlich wirkendes Gesicht. Fast könnte man das Wesen niedlich finden, wären da nicht die unterarmlangen Krallen an seinen Fingern.
Zögernd macht es einen halben Schritt auf mich zu. Seine Miene ist ausdruckslos. Zögernd senke ich die Lampe, nur eine handbreit. Das Wesen hebt fast unmerklich die Schultern. Ist es Gier, die ich in seiner Haltung lese? Oder Furcht?
Vielleicht sollte ich es mit Diplomatie versuchen. „Kannst du sprechen?“
Das Wesen starrt mich an.
„Nun gut“, murmel ich, mehr zu mir selbst, „war nen Versuch wert.“ Vielleicht hat es Hunger? Ich krame in meinen Taschen. Und halte augenblicklich inne. Die halbe Sekunde, die ich meinen Blick gesenkt hatte, reichte dem Wesen, um auf Nasenlänge an mich heranzutreten.
„Kannstdu. Sprechen.“, krächzt es. Sein Atem riecht faulig.

Mit zitternden Fingern ziehe ich einen halben Keks aus der Jackentasche. Nicht ohne dabei einen halben Schritt zurückzutreten. Halte ihn dem Wesen vorsichtig vor die Augen.
„Magst du Kekse?“ Ich versuche mich an einem gewinnenden Lächeln.
Das Wesen… schnüffelt? Kommt ruckartig näher. Ich fahre zusammen, lasse das Gebäckstück fallen. Sofort bückt es sich danach. Die grotesk langen Krallen sind ihm dabei sichtlich im Weg, aber irgendwie gelingt es ihm, den halben Keks zwischen seinen beiden Handflächen einzuklemmen.
Wieder trete ich einen Schritt zurück, beobachte dabei fasziniert, wie die Kreatur die Hände über den Kopf hebt, die Handflächen zusammenpresst und sich seine Mahlzeit Krümel um Krümel in den Schlund rieseln lässt. Seinem Schmatzen nach zu urteilen fand mein Geschenk seine Zustimmung.
„Möchtest du noch einen Keks?“
Sofort genieße ich wieder seine volle Aufmerksamkeit. Es geht halb in die Hocke, springt dabei von einem Bein aufs andere. „Einenkekseinenkeks. Einenkeks. Nocheineneinenkeks.“
Es dauert nicht lange, bis alle Kekse verschlungen sind. Anschließend stehen wir wieder reglos da und starren uns an. „Keine Kekse mehr?“, krächzt es.
Ich schüttel den Kopf. „Du sprichst meine Sprache.“ Mehr Feststellung als Frage.
Das Wesen grinst. „Jede Sprache.“
„Aber, ähm, nicht besonders gut, wie mir scheint…“
Es hebt die Schultern. „Viel Einsam. Nicht viel Sprache.“

Ich wage einen schnellen Blick über die trostlose Landschaft. Ein schwarz-grüner Moosteppich bedeckt den unebenen Boden. Die Stämme der Bäume sind schmutzig grau und voller Furchen und… Nagespuren? Jenseits meines Lichtkegels erkenne ich nur schemenhaft weitere Baumstämme.
„Lebst du hier?“, frage ich.
Es nickt eifrig, legt die Stirn in Falten. „Hier, dort, überall. Aber hier nicht gut. Kein Fleisch keine Kekse mehr.“
„Kennst du den Weg hinaus?“
Wieder nickt es. „Alle Wege.“
„Würdest du mch führen?“
Wortlos schlurft es ein paar Schritte zur Seite, sieht mich auffordernd an.
Ein wenig mulmig ist mir schon, aber hier möchte ich eigentlich auch nicht verweilen. Kurz denke ich darüber nach, es zumindest nach unserem Ziel zu fragen. Aber welchen konkreten Nutzen hätte eine Antwort für mich? Das Wesen schlurft weiter. Ich beeile mich, ihm zu folgen.
„Hast du eigentlich einen Namen?“
Es wirft mir einen langen Blick über die Schulter zu.
„Seeeele“, krächzt es, und beschleunigt seine Schritte.

[Teil 2]

Donnerstag, 14. August 2014

Tote können länger

Den folgenden Text habe ich als Gastbeitrag für ein Satiremagazin verfasst, das kurz darauf leider eingestellt wurde. Der Artikel ist nie erschienen, was ich schon irgendwie schade finde, deshalb werfe ich ihn einfach mal hier unter's Volk. Viel Vergnügen!


Tote können länger
von Ruther Rendommeleigh


Die Dämmerung bricht herein. Ich wage einen Blick aus dem Fenster. Kein guter Tag. Die Straßen sind voll von ihnen. Ziellos schlurfen sie umher, stoßen gegeneinander, wanken mit leerem Blick im Kreis. Der Lärm wird sie angelockt haben, schätze ich, oder der Geruch alten Frittierfetts. Ich beobachte eine Weile, suche nach Mustern in ihren Bewegungen. An meinem Aussichtspunkt im vierten Stock bin ich relativ sicher. Sie schauen nie nach oben.
Die Rede ist natürlich von den Lebenden. Wie Sie vielleicht schon erraten haben, gehöre ich nicht zu ihnen.
Keine andere Minderheit steht in einem so schlechten Ruf wie die Wandelnden Toten. Man stellt uns als hirnlose Mordmaschinen dar, als Werkzeug des Teufels oder Krankheitsüberträger. Setzen Sie sich ruhig einmal vor den Fernseher und zählen Sie, wieviele Zombies der Protagonist eines einschlägigen Horrorstreifens ohne Reue niedermäht. Schon von klein auf wird den Menschen beigebracht, dass es in Ordnung ist, uns wahlweise mit Feuer und Schwert, mehrläufigen Schrotflinten oder grausamen Experimenten zu begegnen.


Warum Sie das alles interessieren sollte? Nun, wenn dieser Brief Sie erreicht, gehören Sie bereits dazu. Dies ist sozusagen Ihre – nachträgliche – offizielle Einladung, sich uns in aller Stille anzuschließen. An dieser Stelle verzichte ich darauf, Ihnen Gelassenheit nahezulegen und beschränke mich auf den Hinweis, dass Gefühle wie Panik oder Wut von einigen wenigen Drüsen abhängen, die inzwischen ihre Arbeit längst eingestellt haben sollten.


Wie es passiert ist? Da gibt es viele Möglichkeiten. Wir sind inzwischen überall. Hatten Sie in letzter Zeit engeren Kontakt zu Juristen? Erinnern Sie sich, wie Sie nach dem letzten Besäufnis nach Hause gekommen sind? Wie gut kennen Sie die Imbißbude auf halbem Weg zu ihrer Stammkneipe? Oder vielleicht neigte Ihre neueste Eroberung ein bißchen zum Kratzen und Beißen? Hat nicht ein zusammenhängendes Wort herausgebracht? Ach, glaubten Sie wirklich, Sie wären so gut?


Aus welchem Grunde auch immer wir Sie nun in unseren Reihen begrüßen dürfen, ich möchte Ihnen auf jeden Fall ein paar Erkenntnisse mit auf den Weg geben, die Ihnen in Ihrem neuen Unleben von Nutzen sein werden. Das Wichtigste zuerst: Versuchen Sie nicht, die Menschen zu bekämpfen! In den ersten Tagen mag Sie eine Art Heißhunger überkommen, gefolgt von einem Gefühl der Unbesiegbarkeit. Geben Sie dem nicht nach! Letztlich würden Sie doch verlieren - und all den Vorurteilen neue Nahrung geben.
Was mich auch schon zum leidigen Thema der Ernährung bringt. Ihr neuer Metabolismus ist in dieser Richtung eigentlich recht anspruchslos. Ein Pfund rohen Schinkens oder grober Blutwurst pro Tag sollte vollauf genügen, um bei Kräften zu bleiben. Dennoch werden sie bald den Drang verspüren, unvorsichtige Post- oder Pizzaboten in ihre Wohnung zu zerren. Davon möchte ich Ihnen dringend abraten. Unangekündigtes Verschwinden zieht heutzutage peinliche Ermittlungen nach sich. Wenn Sie der Heißhunger packt, greifen Sie stattdessen lieber zu GEZ-Beauftragten oder Zeugen Jehovas. Niemand wird Ihnen diesbezüglich unangenehme Fragen stellen. Falls Sie dennoch einmal ein schlechtes Gewissen plagen sollte, denken Sie daran: Sie können jederzeit aufhören. Ehrlich!


Wie dem auch sei, der größte Unterschied zwischen ihnen und uns – von Oberflächlichkeiten wie Hautfarbe und Herzschlag einmal abgesehen – ist die Art, wie wir die Dinge um uns herum wahrnehmen.
Richten Sie ihren Blick einmal in den nächsten Spiegel. Sie sehen ein unrasiertes, leicht aufgedunsenes Gesicht, blass, Mitte dreißig? Glückwunsch, Sie sind einer von uns. Falls Sie hingegen einen männlich-ausdrucksstarken Blick, ein markantes Kinn und animalischen Charme erkennen... nun, die schlechte Nachricht ist: Es ist dasselbe Gesicht. Ihr Gehirn benötigt schlicht noch ein paar Stunden, um den letzten Rest Hormoncocktail vom metaphorischen Becherboden zu schlürfen.
Es heißt, die Welt sei eine Bühne. Für die meisten Menschen gleicht sie eher einem großen Kinosaal. Auf jede halbwegs ebene Fläche projizieren sie wechselweise Werbespots und Seifenopern. Wenn ein Mensch seinen Blick in die Ferne richtet, sieht er noch immer hauptsächlich sich selbst.
Diese Eigenschaft hat es uns erlaubt, bis heute zu überleben. Oder über-nicht-leben, gewissermaßen. Äh. Wie dem auch sei, ein Lebender sieht, was er erwartet, meistens jedenfalls. Der Kontext ist entscheidend. Sie werden überrascht sein, wie leicht ein frisch gebügeltes Hemd und ein eleganter Hut aus einem menschenfressenden Untoten einen bloß übermüdeten Geschäftsmann machen. Imitieren Sie sie, passen Sie sich ihrer Kleidung, ihren Bewegungen an und sie werden Sie nicht einmal bemerken.
Damit sei Ihnen keineswegs geraten, in allzu engen Kontakt zu den Lebenden zu treten. Wenn Sie Aufmerksamkeit erregen, wird ihr Gegenüber umso mehr Details wahrnehmen. Die es selbstverständlich ignorieren oder gänzlich falsch deuten wird. Man kennt Sie schließlich, es ist bekannt, daß Sie Anwalt, Drogendealer oder Alkoholiker sind. Aber dieser Prozeß ist anstrengend, schafft vages Unbehagen. Die Leute werden sie nicht mögen. Nicht einmal jene, die aus irgendeinem Grund nichts gegen Anwälte haben.
Das muß nun allerdings nicht bedeuten, dass Sie Ihr restliches Dasein in Einsamkeit fristen müssen. Der Umgang mit anderen Ihrer Art wird Ihnen erstaunlich leicht fallen, was nicht zuletzt an unseren recht moderaten Ansprüchen liegt. Niemand erwartet Höflichkeit von einem wandelnden Kadaver. Wenn Ihnen jemand gefällt, halten Sie sich nicht mit Smalltalk auf. Und planen Sie ruhig ein, zwei Stunden mehr ein. Wanken Sie anschließend in eine jener Kneipen, um die Sie als Lebender immer einen großen Bogen gemacht haben. Gehen Sie mit Ihren untoten Kumpels zu den lautesten, brutalsten Konzerten und kämpfen Sie sich in die erste Reihe vor. Einen beim Pogen ‚geborgten‘ Arm wird Ihnen niemand übelnehmen, sofern sie das Körperteil anschließend zurückgeben. Modern Sie nicht in Ihrer Zweizimmerwohnung vor sich hin! Sie sind bereits tot, was haben Sie zu verlieren?